Ein Finanzdienstleister hatte vergleichsweise wenig Probleme, um auf Homeoffice umzustellen. Es geht ja nur von einem Büro in ein anderes. Anfangs überwiegt da sicherlich bei allen die Euphorie. Denn ich kann mir die Zeit frei einteilen.

Aber schon schnell zeigt sich, dass ein Laptop eben doch kein PC mit 2 Bildschirmen ist. Oder der Drucker und der Scanner nicht so hochwertig sind wie im Büro. Und wer Kinder hat, steht manchmal noch vor zusätzlichen Herausforderungen. Denn wieso sollte ich nicht mal kurz bei Mathe helfen, wenn ich doch da bin. Dass ich gerade in einem Web-Meeting bin, lässt sich ja nicht sofort erkennen.

Diese „Probleme“ sind aber ganz gut zu ertragen und dann rückblickend vielleicht sogar ein bisschen witzig. Allerdings kann die Umstellung auf Homeoffice auch zu echten Problemen führen. Wer z.B. statt 2 Monitoren im Homeoffice nur noch einen Monitor hat, kann seine Wirbelsäule durch die einseitige Fehlhaltung zu stark belasten. Und wer nicht konsequent in den Feierabend geht, sondern den ganzen Tag auf Stand-By bleibt, gefährdet sogar seine psychische Gesundheit.

Von den zwischenmenschlichen Herausforderungen, die mit einer unfreiwillig verlängerten Zweisamkeit einhergeht, mal ganz zu schweigen.

Versicherungen sind ja grundsätzlich da, um Menschen finanziell zu helfen, wenn es gesundheitlich schon zu spät ist. Aber vielleicht gäbe es ja Möglichkeiten, schon vorher zu helfen.

Wir sprechen über das Thema „Homeoffice und seine Folgen für die Berufsunfähigkeits-Versicherung“ mit Stefan Wittmann, Bereichsleiter für die Lebens- und Krankenversicherung bei der Deutschen Rückversicherung.

Interview zum Thema „Homeoffice und die BU-Versicherung“ mit Stefan Wittmann

BSC: Herr Wittmann, wie hat Homeoffice Ihren Arbeitsalltag verändert?

Stefan Wittmann: Die Themen sind gleichgeblieben, die Arbeitsweise hat sich deutlich verändert. Besprechungen mit Geschäftspartnern finden nahezu ausschließlich per Videokonferenz statt. Der interne Austausch mit KollegInnen und Mitarbeitenden kann leider kaum mehr persönlich stattfinden, sondern hat sich ebenfalls auf Telefon und Videochat verlagert. Aber all dies funktioniert in der Praxis sehr gut.

BSC: Wenn Sie als Rückversicherer Risiken bewerten, werden Sie vermutlich nicht auf Ihre persönlichen Erfahrungen zugreifen. Was ist die Datengrundlage, wenn eine Situation vollkommen neu ist? Erfahrungen aus dem Ausland oder Hochrechnungen?

SW: Bisher hat ja Niemand Erfahrungen mit einer Pandemie. Bei ausländischen Daten muss man auch sehen, ob diese 1:1 auf den deutschen Markt übertragen werden können. Wir sehen ja aktuell selbst bei direkten Nachbarländern ganz andere Verhältnisse als in Deutschland. Für die Beurteilung der Risiken kombinieren wir unsere langjährige Expertise im deutschen Markt in den Bereichen Aktuariat und Medizin mit den aktuellen Statistiken und Entwicklungen. Damit glauben wir, die Risiken weiterhin gut bewerten zu können.

„Der Gedanke, dass durch Homeoffice die Leistungsfälle zunehmen, ist naheliegend.“

BSC: Denken Sie, dass es durch Homeoffice mehr oder weniger Leistungsfälle geben wird? 80% aller Unfälle passieren ja zu Hause…

SW: …und hier bei der Hausarbeit, was aber nicht mit Homeoffice gleichzusetzen ist. Zudem sind Unfälle keine maßgeblichen Leistungsauslöser für die Todesfall- oder Berufsunfähigkeitsversicherung. Dennoch ein naheliegender Gedanke, dass durch Homeoffice die Leistungsfälle in der Berufsunfähigkeitsversicherung zunehmen. Denken sie an Überforderung durch Homeschooling oder soziale Spannungen innerhalb von Familien. Dazu haben womöglich viele im Homeoffice Arbeitende keinen ergonomischen Arbeitsplatz. Unsere beratenden Ärzte berichten von deutlich mehr Patienten, die aus den genannten Gründen behandelt werden. Das führt aber nicht zwangsläufig zu mehr Leistungsfällen. Das mögen doch eher Kurzfristfälle sein, die nicht zu einem nachhaltigen Trend führen. Dem steht aber womöglich entlastend gegenüber, dass für viele ArbeitnehmerInnen die psychische Belastung aus Pendelzeiten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto wegfällt.

An vielen Berufen und Branchen geht der Homeoffice-Trend ja auch nahezu komplett vorbei, denken sie an das Gesundheitswesen, Handwerk, Industrie, Transportwesen.

Ein spürbarer Effekt kann eher aus einer möglichen wirtschaftlichen Talsohle in Deutschland entstehen. Ein wirtschaftlicher Niedergang kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken und im Ergebnis auch zu Leistungsfällen in der Berufsunfähigkeitsversicherung führen. Dafür ist man dann ja auch gut versichert. Da die Lebensversicherer finanziell solide aufgestellt sind und die Kalkulation hinreichend konservativ erfolgt, besteht kein Grund zur Besorgnis.

„An vielen Branchen geht der Homeoffice-Trend nahezu komplett vorbei.“ 

BSC: Was hat sich in der Versicherungslandschaft durch das Corona-Jahr geändert? Wird das Bestand haben?

SW: Der Trend zu virtuellen Formaten sowie zu digitalen Lösungen für die gesamte customer journey der Kunden wird sich verstärken und nicht mehr zurückgedreht werden. Warum auch?

Für Lebensversicherer ergibt sich das – womöglich begrenzte – Zeitfenster, sich dem Kunden als Gesundheitspartner zu etablieren. Gesundheit als wichtiges Gut ist bei vielen Menschen nachhaltig im Bewusstsein verankert. Sie werden Interesse an smarten Serviceangeboten ihres Lebensversicherers entwickeln. Eine Top-Gelegenheit für die Lebensversicherungsbranche. Diese Chance muss dann aber auch ergriffen werden.

BSC: Wie könnte eine Versicherung mir zukünftig helfen, mich besser auf gesundheitliche und berufliche Veränderungen einzustellen? Gibt es da schon eine Ideenschublade?

SW: Dazu ist erst einmal notwendig, dass der Versicherer echte und regelmäßige Kontaktpunkte zu seinen Kunden aufbaut, außerhalb der Abbuchung der Beiträge und jährlicher Standmitteilungen. Eigene Tests von Prototypen bei Kunden haben gezeigt, dass eine Nachfrage nach konkreten Angeboten zur gesundheitlichen Vorsorge und zur beruflichen Entwicklung vorhanden ist. Mit individuellen und personalisierten Services würde der Lebensversicherer zusätzlich zum Versicherungsschutz wirkliche Mehrwerte schaffen. Die Berufsunfähigkeit durch gemeinsame Anstrengungen vermeiden oder falls doch eingetreten, zumindest verkürzen und eine berufliche Perspektive schaffen. Ideen, diesen Slogan mit Inhalten zu füllen, gibt es ausreichend, es hapert weiterhin an der Umsetzung seitens der Branche.

BSC: Die Berufsgruppen spielen in der BU-Versicherung derzeit eine große Rolle. Wird sich da Home-Office auf die Kalkulation auswirken?

SW: Kurzfristig eher nicht. Für viele Berufe hat sich das Tätigkeitsfeld nicht grundlegend verändert. Beispielsweise übe ich die gleichen prägenden Tätigkeiten aus wie früher, bis auf die Reisetätigkeit. Alleine dieser Wegfall wird in den wenigsten Konstellationen entscheidend sein, ob ich berufsunfähig werde oder nicht.

„Echte Veränderung erwarte ich nicht durch Home-Office. Eher durch die fortschreitende Digitalisierung!“

Echte Veränderungen erwarte ich eher durch die fortschreitende Digitalisierung, Die körperliche Belastung wird sukzessive zurückgehen. Nehmen sie beispielsweise den neuen 5G Mobilfunkstandard. In Asien gibt es bereits Pilotverfahren, bei denen Baggerführer im Homeoffice oder auch im Büro per Joystick die Bagger auf der Baustelle sozusagen virtuell bedienen. Die gleiche Berufsbezeichnung, die gleiche Tätigkeit, aber mit deutlich reduzierten Belastungen. Spätestens dann geht die Kalkulation gemäß dem Beruf und seiner Berufsgruppe zu Ende. Dafür haben wir das Tätigkeitsprofil entwickelt, das die Prämie nach den tatsächlichen Belastungen, die der Einzelne in seinem Beruf hat, bemisst.

BSC: Wir danken für das Gespräch!